Jean-Marie Straub

Synchronisation ist Mord

19. Februar 1970

Lieber Dottore,

die zwanzig Millionen italienischen Fernsehzuschauer, die Kulturindustrie oder die Massenkultur sind ein totalitärer Mythos. Ich weigere mich, ihm durch die Synchronisation von Les yeux ne veulent pas en tout temps se fermer (Die Augen wollen sich nicht zu jeder Zeit schließen) zu frönen. Ich glaube nicht an die Masse, ich glaube an die Individuen, an die sozialen Klassen und an die Minderheiten (die, wie Lenin sagt, die Mehrheiten von morgen sein werden).

Es gilt“, sagt Pierre Schaeffer über das französische Fernsehen, „den Fernsehzuschauer als verantwortlichen und intelligenten Menschen zu betrachten. Heutzutage macht die Welt genau das Gegenteil. Ein für alle Mal wurde beschlossen, dass es einen banalen Fernsehzuschauer gibt, dass es notwendig ist, ihn mittels Zerstreuung zu neutralisieren. Das ist die amerikanische Methode des „Rating“. In New York sondiert man acht Tage nach dem Start einer Sendung das Publikum. Hat die Sendung nicht die erstrebte Einschaltquote, wird sie schlichtweg und sofort gestrichen. Die Masse wird zum Gesetz. Und diese Absurdität kommt gerade über den Atlantik zu uns. Je mehr Fernsehgeräte es gibt, desto mehr will man alle auf einmal erreichen. Dabei liegt die Wahrheit im Gegenteil. Je mehr Fernsehgeräte es gibt, desto mehr gilt es, die verschiedenen Arten von Publikum zu unterscheiden. Das Ziel besteht nicht in der Betäubung!“

Nicht nur in Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und der Schweiz, sondern auch im größten Teil der südamerikanischen Länder sind die Leute daran gewöhnt, Filme in fremden Sprachen zu sehen. Sollten die Italiener tatsächlich das unterentwickeltste Volk der Welt sein?

Jorge Luis Borges schreibt: „Jene, welche die Synchronisation verteidigen, werden (vielleicht) behaupten, dass Einwände, die sich ihr entgegenhalten lassen, sich jedem beliebigen anderen Beispiel von Übersetzung ebenso widersetzen würden. Dieses Argument verkennt oder umgeht den Hauptfehler: das willkürliche Aufpfropfen einer anderen Stimme und einer anderen Sprache. Die Stimme der Hepburn oder der Garbo ist nichts Beliebiges; sie ist, für die Welt, eine der Eigenschaften, die sie definieren. Desgleichen sei daran erinnert, dass die Mimik des Englischen nicht die des Spanischen ist.

Mehr als ein Zuschauer fragt sich: Wenn es schon eine Usurpierung der Stimme gibt, warum nicht auch eine der Gestalten? Wann wird das System perfekt sein? Wann werden wir Juana González unmittelbar in der Rolle der Greta Garbo, in der Rolle der Königin Christine von Schweden sehen?

Ich habe sagen hören, in der Provinz habe die Synchronisation Gefallen gefunden. Das ist nichts als eine Behauptung; solange die Argumente der connaisseurs aus Chilecito oder aus Chivilcoy nicht vorliegen, lasse ich mich jedenfalls nicht einschüchtern. Auch habe ich gehört, die Synchronisation sei erfreulich – oder annehmbar – für jene, die des Englischen nicht mächtig sind. Meine Kenntnisse des Englischen sind weniger vollkommen als meine Unkenntnis des Russischen; desungeachtet wäre ich nicht bereit, Alexander Newsky in einer anderen als der Originalsprache anzuschauen, und ich würde ihn mit Inbrunst ein neuntes oder zehntes Mal sehen, wenn man die Originalfassung oder eine, die ich dafür halte, zeigen würde. Und das Wichtigste: schlimmer als die Synchronisation, schlimmer als der Ersatz, welchen die Synchronisation mit sich bringt, ist das allgemeine Bewusstsein einer Vertauschung, eines Betrugs.“1

Ein faschistisches Gesetz (zur Verteidigung der italienischen Sprache!) hat aus Italien die Gaskammer des ausländischen Films gemacht. Denn wie Jean Renoir sagt (der Mann, der das Kino am besten verstanden hat), „Synchronisation ist Mord“. „Es geht immer darum, sich vom Leben überraschen zu lassen. Sich vom Leben überraschen lassen, heißt auch, die Stimme, das Geräusch in dem einen Moment einzufangen … Ich gehöre noch zur alten Schule derer, die an die Überraschung durch das Leben glauben, an den Dokumentarfilm, die glauben, dass es falsch wäre, den Seufzer wegzulassen, den ein Mädchen gegen ihren Willen in einer bestimmten Situation ausstößt, und der nicht reproduzierbar ist.“

Mein Film Les yeux ne veulent pas (Die Augen) beruht genau auf jenen Dingen, die nicht „reproduzierbar“ sind – auf der Fleischwerdung des Wortes von Corneille in jeder Figur in dem einen Moment, auf dem Geräusch, der Luft und dem Wind und auf der Anstrengung der Schauspieler und dem Risiko, das sie eingehen, wie Seiltänzer, von einem Ende der langen, schwierigen Texte, die zugleich mit dem Bild aufgenommen werden, zum anderen Ende: in perfekter Gleichzeitigkeit.

Der Versuch, diesen Synchronismus im Studio und in Italienisch zu „rekonstruieren“ wäre nicht nur absurd und scheinheilig, sondern kostete Wochen, womöglich Monate an Arbeit – und erwiese sich zweifellos in vielen Fällen als unmöglich.

Und wer garantiert mir, dass dieses Werk ausgestrahlt wird?

Vor fast zwei Jahren haben wir einige Wochen lang zu viert an der italienischen Synchronisation des Kommentars meines Films Chronik der Anna Magdalena Bach gearbeitet (ich habe diese Synchronisation für das Fernsehen und das italienische Publikum akzeptiert, weil sie möglich war, da es sich um einen parallel zum Bild gesprochenen Kommentar handelt), und dieser Film wurde bislang nicht ausgestrahlt!

Ich schlage daher vor, dem Fernsehen im August eine untertitelte Version von Les yeux ne veulent pas … anzubieten, untertitelt in Italienisch (die ich zur selben Zeit im Festival von Venedig zeigen möchte); sollte das Fernsehen diese untertitelte Fassung ablehnen, dann will ich lieber auf die fünfzehn Millionen verzichten, mit denen sich die RAI an dem Film beteiligt.2

Mit Giuseppe Bertolucci „erwarte ich die Ära neuer Gewohnheiten“; seien Sie meiner aufrichtigsten Gefühle versichert.

Jean-Marie Straub

P.S. „Die künstlerische Aktivität verdankt sich am allerwenigsten dem mechanischen Ausgleich, der Nivellierung, der Dominanz der Mehrheit über die Minderheit.“
Lenin

P.P.S. „Unsere Genossen sollten nicht glauben, etwas, das sie selbst nicht verstehen, müsse auch den Massen vollends unverständlich sein.“
Mao Tse-tung

 

Aus dem Italienischen übersetzt von Klaudia Ruschkowski.

1 “Über die Synchronisation”, in: Jorge Luis Borges, Gesammelte Werke Band 5/I, Carl Hanser Verlag, München/Wien 1981, S. 166/67 (Anm. der Übers.)

2 Der Film, den RAI gekauft hat, wurde bis heute nicht ausgestrahlt. (Anm. der ital. Hg.)