Jean-Marie Straub, Elke Marhöfer, Mikhail Lylov

Tausend Klippen

Elke Marhöfer: In dieser Frage geht es um ein Modell, das Jacques Rancière in Hinsicht auf eure Filme entworfen hat, und zwar die Verlagerung des „dialektischen Dispositivs“ hin zum „lyrischen Dispositiv“ seit dem Film Dalla nube alla resistenza von 19781. Das frühere, dialektische Dispositiv stellt nach Rancière eine Art „Arbeiterkommunismus“ dar, welches auf einem Modell von Austausch und Abspaltung beruht. Das lyrische Dispositiv hingegen, eine Art „Bauernkommunismus“, basiert auf dem Modell der Übereinstimmung und der Affirmation. Wie würdest du eure Filme in Bezug auf diesen Begriff des „Bauernkommunismus“ beschreiben? Ich denke hier an Trop tôt, trop tard, Dalla nube alla resistenza und Operai, contadini.2


Zu früh, zu spät (1980/81), © BELVA Film
Jean-Marie Straub: Aber das bin ich doch gar nicht. Rancière ist Rancière. Ich kann nicht den Rancière kommentieren. Ich verstehe nicht einmal ganz, was er meint. Was soll ich dazu sagen? Dass der Rancière recht hat? Über etwas, das für mich ganz abstrakt ist? Vielleicht ist das für ihn konkret, da müsste ich seinen Text lesen, erstmal oder wieder. Ich sehe nicht, was das alles heißt. Ich mache doch keinen Film, um den „Bauernkommunismus“ zu illustrieren oder darzustellen. Außerdem geht es in Operai, contadini nicht nur um Bauernkommunismus. Es ist noch dazu eine Liebesgeschichte zwischen Ventura und der Frau. Eine Liebesgeschichte, die auf gegenseitiger Achtung beruht. Das sind Leute, die nach dem Krieg eine Gemeinschaft gebildet haben. Sie haben versucht, miteinander zu überleben, und diese Gemeinschaft wird dann von außen zerstört, denn dann kommt McCarthy3, und nach McCarthy kommt die Democrazia Christiana, und die arbeitet mit den Amerikanern, bis zu dem Punkt, wo sie sogar gemeinsam mit der CIA Attentate vorbereitet, nur um die Zusammenarbeit mit der italienischen KP zu verhindern.

EM: Ich stimme mit dir überein, dass das Modell von Rancière in seiner Binarität zu abstrakt ist, aber ich finde es hilfreich, um den Punkt der Hinwendung zu ‘bäuerlichen Lebensformen’ klarzumachen. Und wenn man den Film Trop tôt, trop tard nimmt, den historischen Text, die Statistiken, die gelesen werden, und auch die Bilder des heutigen Frankreich – da gibt es doch offensichtlich ein Interesse an diesem Leben.

JMS: Es waren Zahlen, die nicht von mir kommen, sondern aus den Cahiers de Doléances4 der französischen Revolution. Der Engels übernimmt das, und ich stehe da und fahre herum und suche Plätze, Orte. Ich suche, was ihr den „Standpunkt der Einstellung“ nennt, für diese  Information, für diese Zahlen. Das ist der französische Teil. Im ägyptischen Teil geht es nicht mehr um Zahlen, aber wiederum um Schauplätze von wirklichen Rebellionen. Ich weiß nicht, was ich da sagen soll. Wenn ich fähig wäre, darüber zu plaudern, hätte ich die Filme nicht gemacht. Ich habe die Filme gemacht, gerade weil ich nicht fähig war, über den sogenannten „Bauernkommunismus“ zu plaudern. In Operai, contadini kommt das Wort Kommunismus nicht ein einziges Mal vor.

EM: Ich finde es aber interessant, mit dem Wort ‘Kommunismus’ eure Herangehensweise zu beschreiben. In euren Filmen gibt es eine Affirmation der Gleichwertigkeit von Elementen: vom Text, dem Wind, den Vögeln, den Grillen, den Menschen, die den Text rezitieren. Alles ist in einer gleichbedeutenden Form vorhanden. Alles ist vorhanden: Schnee, Eis, Sterne, Lastwagen, Benzin, die Herstellung von Käse. Welche Bedeutung hat diese Gemeinschaft, die du gerade beschrieben hast? Warum hat sie euch interessiert?

JMS: Ich könnte zynisch antworten wie Buñuel: „Er interessierte sich auch für die Insekten.“ Das klingt ein bisschen verächtlich, aber ein Film ist doch kein Modell. Ein Film ist ein Gewebe von Gefühlen, Erzählungen und Erlebnissen. Dass das über Texte vermittelt ist, die nicht von uns sind, sondern von anderen, das behindert ja nicht, im Gegenteil, es ergibt eine zusätzliche Schicht für die Fiktion. Der zweite Teil von Operai, contadini ist die Geschichte fast einer Lynchtat. Der Erzähler wird fast gelyncht. Und dann kommt die Kehrseite davon, das ist die  Liebesgeschichte von Ventura, und das hat dann mit der Gemeinschaft zu tun. Es ist eine Liebesgeschichte, die nur in einer Gemeinschaft passieren konnte und die deswegen auch konkret und schön ist. Aber das hat mit Bauern als solchen nichts zu tun.

EM: Für mich ist insbesondere Trop tôt, trop tard ein wichtiger Film, noch mehr als Operai, contadini, da er die Landschaft bearbeitet und als eigenständigen Akteur in den Vordergrund rückt.

JMS: Das hat mal jemand „die Nähe und die Ferne“ genannt. Deswegen ist es interessant, dass du dich der beiden Filme angenommen hast. Besonders der ägyptische Teil, aber auch der französische, das ist wirklich die Ferne. Die Ferne der Zahlen. Nennen wir das Landschaft oder von mir aus: Geologie, geologisches Theater der Zahlen. Dagegen ist es in dem italienischen Film [Operai, contadini] die Nähe und nicht mehr die Ferne. Aber das hängt mit der Arbeit  zusammen, die wir zu machen versucht haben: immer auf eine Kehrseite zu gelangen oder auf das Gegenteil von dem, was man vorher gemacht hat. Um zu widersprechen, um etwas Gegenteiliges zu machen. Aber kann man sagen, das eine oder das andere sei wichtiger? Ich weiß nicht, mit welchem Recht. Man kann auch sagen, ein bisschen zynisch: das Theater dessen, was man erzählt, der theatralische Raum. Dass das mit Landschaft oder sogar mit Geologie zu tun hat, ist nur die Konsequenz daraus. Oder der Ursprung davon, man weiß es nicht.


Dreharbeiten für Zu früh, zu spät (1980/81) in Ägypten. © Maggie Perlado
EM: Wie würdest du denn den Raum von Trop tôt, trop tard beschreiben?

JMS: Ich weiß nicht, ob ich ihn beschreiben kann, das können nur Leute machen, die damit nichts zu tun haben. Eine Beschreibung ist etwas, das man von außen tut, und ich bin drin. Ein Film ist etwas, das mit Raum arbeitet, und wenn der Film wirklich existiert, soll der Raum so bearbeitet worden sein, dass man damit Zeit erreicht hat. Das ist alles, mehr kann ich nicht sagen. Es wäre viel interessanter, wenn du schreibst, was du empfunden und erlebt hast. Was ich zu sagen habe, ist doch belanglos. Das steckt doch in der Materie, nicht in Wörtern, die man nachträglich erfindet, um darüber zu schwatzen. Dass jemand, der außen ist, das tut, das ist dann interessant. Das beruht dann auf Erfahrungen und Erlebnissen, die er mit den Filmen gehabt hat, die von den Filmen kommen, aber gemischt sind mit seinen eigenen Erfahrungen. Dann wird es interessant.

EM: Zunächst erscheint mir in dem Film die Gleichwertigkeit wichtig von dem, was du als theatralischen Raum und ich als Landschaft bezeichnet habe, auch vom Filmton und der Geschichte, die stattgefunden hat. Alle Momente sind gleichwertig vorhanden, und darin sehe ich eine Gleichberechtigung von Geschichte im Verhältnis, zum Beispiel, zum Raum und allem, was
grundsätzlich vorhanden ist.

JMS: Man muss nur suchen und suchen, bis man gefunden hat, was ihr den „Standpunkt“ nennt, und dann entsteht die Materie. Genauso wenn man ein Dorf filmen möchte, muss man wissen, von wo man das tut. Der Ausdruck „Der Standpunkt der Einstellung“ hat mir missfallen. Die Einstellung ist das Ergebnis, und der Standpunkt ist, was man sucht, um zum Ergebnis zu kommen. Und da muss man viel herumfahren um das Dorf; nach oben gehen, nach unten, bis man den Punkt gefunden hat, von wo man einfach etwas sieht. Wo man etwas sieht. Es ist wichtig, das zu wiederholen. Und dann entdeckt man, dass es oft im Dorf dort endet, wo der Wasserbehälter steht, denn der Wasserbehälter steht natürlich nicht irgendwo beliebig. Er steht da, von wo das Wasser die ganze Ortschaft versorgen kann. Und der Standpunkt, von dem die Ortschaft versorgt werden kann, ist zufälligerweise auch der Standpunkt des Filmers, der eben versucht, ein Ganzes zu zeigen. Also, das ist dann eine Einstellung von einem Dorf wie eine Bewässerung. Und Brecht würde sagen: Was man filmt, gehört dann den Bewässerern. Was man zeigt, gehört den Bewässerern, die Welt gehört den Bewässerern. Aber das ist Quatsch.

EM: Ihr zeigt nicht einfach ein Dorf, ihr zeigt auch das Ganze, das das Dorf umgibt, seine Platzierung.

JMS: Man bewässert nicht nur eine Ortschaft, man bewässert die Erde.

EM: Und die Erde ist eines dieser Elemente in euren Filmen. Gibt es eine Form von „Filmökologie“?

JMS: Ich weiß nicht, was Ökologie heißt. Ich weiß, was logia heisst, das ist das Wort logos, und oikos ist das Wort „Haushalt“. Ha! Oikos ist die Ökonomie, also der Mann, der Verwalter, die Hausverwaltung ganz wörtlich. Das kommt vom Griechischen und da kommt man nicht drum herum. Ich würde lieber sagen: „Oh Erde, meine Wiege.“

EM: Die poetische Antwort macht einen anderen Raum auf als das Wort „Ökologie“. Also gut, „die Erde als Wiege“, was bedeutet das?

JMS: Jetzt sind wir auf den Kern gekommen. Es bedeutet nichts weiter als „Oh Erde, meine Wiege“. Das ist wie mit einem Film: Es genügt für sich und an sich. Ich sehe nicht, warum man das noch verbessern sollte, mit einer Beschreibung oder einer Erklärung.

EM: In Trop tôt, trop tard wirkt die französische Landschaft seltsam befremdend, weil sie so leergefegt ist.

JMS: Das war für uns klar, weil wir ja nicht hingefahren sind und sofort gefilmt haben, sondern mehrmals hin und wieder hin, um uns dem, was wir aufnehmen wollten, anzunähern. Wir wussten ganz genau, dass in Frankreich von dem Standpunkt, der für uns nötig war, nicht mehr viel Menschengegenwart zu sehen und zu hören ist. Erstens, weil der Standpunkt entfernt ist, und zweitens, weil Frankreich eben das geworden ist, was es geworden ist. Aber man spürt doch, dass es eine Landschaft ist, die einmal bearbeitet wurde und viel bearbeitet wurde, obwohl sie jetzt leer zu sein scheint. Ob das auch der Fall in Ägypten ist? Man könnte sagen, es ist umgekehrt. Aber das ist wiederum Rhetorik. Umgekehrt, weil um den Nil herum jeder Quadratzentimeter bearbeitet worden ist. Aber sobald die Erde aufhört und die Wüste anfängt, hört auch alles auf, und zwar viel drastischer. Und da gibt es eben einen Punkt, der fast ein gemeinsamer Nenner sein könnte für beide Filme, obwohl die zunächst mal ganz widersprüchlich erscheinen. In Operai, contadini steckt man mittendrin, man steckt mittendrin und die Leute sind im Vordergrund.

EM: Trop tôt, trop tard und Operai, contadini sind fast ethnografisch.

JMS: Ja, das hoffe ich. Das ist auch das, was ich eben reinzuschmuggeln versucht habe, mit Buñuel und den Insekten. Er hat einmal gesagt: „Ich filme diese Leute einfach, wie ich Insekten filmen würde.“ Wenn man nicht davon ausgeht, dass das mit Verachtung oder mit Gleichgültigkeit zu tun hat, dann ist das schon etwas wert.

EM: Das Gleiche hat Ousmane Sembène einmal zu Jean Rouch gesagt: „Du filmst uns wie Insekten.“ Ich kannte das Buñuel-Zitat nicht, aber er hat genau das Gleiche gesagt.

JMS: Ousmane hat das über die Filme von Jean Rouch gesagt?

EM: Ja.

JMS: Und hat er das bedauert oder beklagt?

EM: Sembène hat das als Vorwurf gemeint.

JMS: Ach ja, er hat das als Vorwurf gemeint. Wenn man sie nicht als Insekten gefilmt hätte, dann hätte man sie gefilmt wie …? Wie Clowns? Wie Kasperle?

EM: Aber der Buñuel-Film Las Hurdes ist doch gerade eine Kritik an ethnologischen Filmen und an der Erwartung der Zuschauer. Ich würde ja gar nicht glauben, dass er das Dorf und die Leute wie Insekten filmen will.

JMS: Er hat das nicht über diesen Film gesagt. Er hat das viel später gesagt über die Filme, die er dann in Mexiko und in Frankreich gedreht hat. Und er hat es über die Bourgeoisie gesagt, die er gefilmt hat, und nicht über die Leute von Las Hurdes.

EM: Warum willst du dieses Zitat auf eure Filme übertragen? Warum willst du überhaupt zynisch und distanziert sein?

JMS: Es ist sehr hart, was da passiert zwischen den Arbeitern und den Bauern zum Beispiel. Es gibt da eine Kluft. Und das erste Drittel des Films handelt von dieser Kluft. Und man kann wirklich keiner Seite die Schuld geben, sie sind gleichermaßen auseinander. Nagib! (Er ruft die Katze.) Er ist in Trop tôt, trop tard am Ende drin.

EM: Die Katze?

JMS: Ja, ja, er sitzt im Bett und telefoniert. Er ist krank und er wird bald sterben. Und er heißt Nagib.5


Dalla nube alla resistenza (1978), © BELVA Film
EM: In dem Film Dalla nube alla resistenza gibt es auch eine Ambiguität, einen Zwischenzustand von Mystischem und Historischem, von Mensch und Tier und von Mann und Frau. Es gibt den Wolf, der Mensch war, den Mann, der Frau war. Woher kommt euer Interesse, diese fundamentalen Unterscheidungen aufzuweichen? Das heißt, zwischen diesen großen  Unterscheidungen hin- und hergehen zu können, beziehungsweise sie zu verändern.

JMS: Das hat mit Mythologie zu tun, wie man das so nennt.

EM: Ja, aber wichtig ist doch, dass es in der Mythologie diese Trennungen, die für uns heute so wichtig sind, nicht so sehr gibt. Und ich möchte wissen, was euch daran interessiert hat, dass es diese Trennungen nicht so sehr gibt.

JMS: Dass uns der Wolf nicht weniger interessiert hat als die beiden, die soviel schwatzen über seinen Tod? Das ist doch wesentlich für den Film.

EM: Und dass der Mann eine Frau sein kann. Genau, das ist wesentlich. Und was ist der Grund, diese Momente nach vorne zu bringen?

JMS: Ich kenne mich in Mythologien nicht aus. Die Danièle kannte ein gutes Stück davon, ich war vollkommen ignorant. Mich hat das interessiert, weil das eben komische Geschichten sind, weiter nichts. Und meistens komische Geschichten von den Bauern.

EM: Was ist wichtig an den komischen Geschichten?

JMS: Dass sie einfach komisch und ganz fremdartig erscheinen und dass man sie erzählen muss, als ob das einfach nicht da wäre, diese Fremdartigkeit, und immer wiederum auch das Gegenteil. Dann ist man wieder bei Brecht, man kommt nicht drum herum.

EM: Ich fand diese komischen Geschichten wichtig, weil sie das Heute mit seinen regulierenden Trennungen in Frage stellen.

JMS: Sie stellen nicht nur das Heute in Frage. Wenn der Tiresias auf seinem Karren sitzt, spricht er von den Göttern und sagt plötzlich: „Vorher nehmen sie dir jede Kraft und dann entrüsten sie sich, wenn du weniger als Mensch wirst.“ Das hat zwar mit Mythologie zu tun, aber nicht nur. Der ganze Film ist doch so, ob das direkt mythologisch ist oder nur indirekt.

EM: Ja, wir können das Wort auch weglassen, ich hab’ damit auch nicht so viel zu tun.

JMS: Das kam von mir, leider.

EM: In diesem ‘weder Mann noch Frau’, ‘weder Tier noch Mensch’ gibt es etwas, das gegen die Aufteilung des Lebendigen in Arten oder Geschlechter angeht, und das finde ich sehr befreiend.

JMS: Ja, Donnerwetter, die sind doch … Wenn die Frau verrät, dann verrät sie als Frau, sie rebelliert als Frau. Weil sie die Männerwelt zum Kotzen findet, nicht nur wegen Mann und Frau und so weiter. Es ist das Gegenteil. Sie verrät sich nicht selbst oder die Welt oder die Natur. Sie verrät die Verräter, und das ist etwas anderes, weil sie eben Verräter sind.

EM: Die Texte, die ihr verwendet, sind immer lyrische Texte und ihr Inhalt ist nur ein Teil unter anderen Momenten. Alles ist direkt vorhanden und verweist nicht auf etwas Äußeres. Man könnte dann vielleicht sagen, dass eure Filme wesentlich durch Affekte arbeiten.

JMS: Affekte – ich würde lieber sagen Gefühle. Denn Affekt ist wiederum nicht mehr Griechisch, sondern Lateinisch.

EM: Wenn eure Filme auf Gefühlen basieren, geht es euch darum, abstrakte Vorstellungen von Repräsentation zu verlassen und so etwas wie eine unmittelbare Bewusstmachung zu produzieren? Geht es darum, von Repräsentation wegzukommen?

JMS: Ja, ich würde sagen, es geht darum, die Sachen zu zeigen und die Gefühle, so dass derjenige, der den Film sieht, den Eindruck hat: Was ist denn das für ein Planet, auf dem wir leben? Oder was ist denn das für eine Welt, wo solche Sachen möglich sind? Oder solche Gefühle, oder wo solches passieren kann. Und da steckt man wieder in dem Sumpf mit Brecht, im guten Sinne. Was ist denn das für eine Welt, wo solche Gefühle, solche Sachen, solche Ereignisse, solche Geschichten stattfinden können? Ist das richtig oder nicht richtig? Könnte das anders sein? Eines Tages müsste man das doch verändern. Ja. Das ist es.

EM: Die Art und Weise, wie ihr filmt, nämlich eher auf Gefühlen basierend, ist ja anders, als wenn man einfach versucht, die Repräsentation eines Problems zu verfilmen. Ihr filmt ja nicht die Darstellung eines Problems, sondern ihr filmt viel direkter.

JMS: Ja. Ohne das, was man so leichthin ‘Distanz’ nennt. Und doch so, dass derjenige, der den Film sieht, die Möglichkeit hat, sich zu fragen, wie das möglich ist; ob das sein muss, oder ob das sein müsste. Brecht hat nie von Distanzierung gesprochen, die Amerikaner und die Engländer haben das falsch übersetzt. Er hat von Verfremdung gesprochen, die Sachen so zu zeigen, dass sie fremd werden.

EM: Du hast gesagt, du möchtest die Dinge ohne Distanz zeigen, und dennoch soll der Betrachter die Möglichkeit haben, zu reflektieren und zu fragen: „Warum muss diese Welt so sein?“ Dieser Übergang vom direkten, distanzlosen Empfinden hin zu dieser Frage: Warum muss das so sein – wie funktioniert das?

JMS: Ha! Wie das funktioniert, weißt du doch besser als ich. Ich bin ja nur der Koch. Ich weiß nicht, wie das funktioniert. Ich hoffe nur, es funktioniert irgendwie, was soll ich mehr sagen.

EM: Gilles Deleuze hat gesagt, euer Bild sei ein „Stein“ und eure Einstellung ein „Grabmal“. Die Erde sei verlassen, aber gleichsam gefüllt mit Geschlechtern von Leichnamen. Wenn ihr zum Beispiel am Ende von Operai, contadini einen langen Schwenk über die Hügel macht, wirkt der Raum dort durch die vorangegangenen Gespräche seltsam vermenschlicht. Die Hügel scheinen bevölkert von Menschen. Geschichte wird also zu einer Vermenschlichung von Natur. Was ist in diesem Schwenk ‘Mensch’ und was ist ‘Natur’?

JMS: ‘Natur’ an sich, als solches, existiert nicht, und ob der Mensch jemals existieren wird oder noch existiert, das ist die andere Frage. Ich glaube, diese Landschaft ist für mich darin eher etwas Weibliches und was man Mensch nennt, wenn man das forcieren will, etwas Männliches.

EM: Ihr sucht sehr spezifische Drehorte, historische Plätze, aber ihr produziert keine filmisch-illusorische Konstruktion dieser Orte. Manchmal gibt es eine Totale oder einen Schwenk, aber die erklären den Raum nicht in diesem illusorischen Filmverständnis. Warum wehrt ihr euch gegen die Filmkonvention, durch eine Reihe von Einstellungen den Raum erfahrbar zu machen?

JMS: Es muss ein Geheimnis bleiben. Wenn man filmt und ein Geheimnis zerstört, dann filmt man überhaupt nichts. Es geht um das Gegenteil einer Vergewaltigung. Ich weiß nicht … man soll, man muss, man darf nur filmen, was man nicht vergewaltigt. Donnerwetter, was man liebt, oder – ich mag das Wort nicht, aber: respektiert. Analysieren heißt wörtlich „auflösen“. Der Aron sagt in Moses und Aron6: „Lass mich ihn auflösen“. Er spricht von einem Gedanken von Moses und dann sagt er: „Auflösen, das heißt opportunistisch werden“.

EM: Und der Filmraum, den ihr in euren Filmen produziert, wäre es okay für dich zu sagen, dass dieser Raum ein fragmentierter ist? Ein Raum, der aus Teilen besteht, im Gegensatz zu einem kontinuierlichen Raum?

JMS: Ja, aber andererseits darf es nicht auffällig fragmentiert sein, denn dann hat es überhaupt keinen Sinn mehr. Derjenige, der filmt, ist ja kein Chirurg. ‘Auflösen’ ist etwas anderes. Wenn der Aaron sagt: „Mach dich dem Volk angemessen hart verständlich. Gebiete hart, aber befolgbar.“ Das ist ja der Opportunismus, der da beschrieben wird. Der Filmemacher muss jede Versuchung von Opportunismus einfach wegjagen, vermeiden.

EM: Ihr habt auch immer wieder betont, dass es keine ‘Filmsprache’ gibt. Ihr habt versucht, gegen alle psychoanalytischen und semiotischen Vorstellungen von Film anzukämpfen.

JMS: Die Filmsprache ist die Werbung.

EM: Was ist dann deine Grundlage für Klarheit im Film?

JMS: Dass man alles vermeidet, was metaphorisch ist.

Zweiter Tag

Mikhail Lylov: Wir haben gestern darüber diskutiert, dass ihr in euren Filmen Dalla nube alla resistenza, Trop tôt, trop tard und Operai, contadini ein sehr besonderes, ‘flaches’ Verhältnis zwischen Körpern, Text, Ton, Licht und Orten herstellt. Wenn diese Elemente den Filmraum formen, was sind die Kräfte, die sie organisieren?

JMS: Das ist ein Grübeln und Grübeln und Grübeln, und die Kräfte sind die Elemente einer Konstruktion. Wenn die Konstruktion stimmt und stark genug ist, dann sind die Kräfte innerhalb dieser Konstruktion frei wie die Sterne am Himmel. Damit ein Film existiert, muss man ihn vorher bauen. Und das sind eben die Verhältnisse zwischen diesen sogenannten Kräften, und dann muss alles innerhalb dieses Rahmens frei funktionieren. Wenn keine strenge Konstruktion da ist, gibt es keinen Film. Und es muss eine Vielfalt da sein. Was uns interessiert, sind diese Vielfältigkeiten der verschiedenen kleinen Geschichten, die erzählt werden und die dann Teil eines Gewebes sind. Das ist ein Gewebe. Es reicht nicht, eine Kamera aufzustellen und irgendwas zu filmen. Es muss vorher abstrakt ein Rahmen und eine Konstruktion entstehen, die dann konkretisiert werden an Ort und Stelle und die dann frei funktionieren. Man muss schon einen Rhythmus haben, bevor der Film gedreht wird und bevor man ihn schneidet. Man muss wissen, warum man da und da steht, wie lange das und das gefilmt wird, und dann einen anderen Standpunkt nehmen oder den gleichen, aber näher, oder den gleichen, nur ein bisschen weiter entfernt. Das muss man alles im Kopf haben oder auf dem Papier. Wenn man nix im Kopf hat, ist
nix da auf der Leinwand, und wenn man keine Gefühle hat, nix im Herzen, dann ist auch nix da.

EM: Du sagst, es muss ein Rahmen konstruiert, aufgestellt werden, und die Elemente darin müssen frei funktionieren. Es gibt also eine Klammer, die aufgestellt werden muss, und die Freiheit in dieser Klammer. Meine Frage wäre, welches Verhältnis besteht zwischen der Klammer und der Freiheit? Unter welcher Macht beeinflussen sie sich gegenseitig? Wie arbeitest du damit?

JMS: Wenn der Gedanke am Anfang stark genug ist, dann funktioniert das alles von selbst. Aber diese Freiheit entsteht nur gegen etwas, was am Anfang das Gegenteil von Freiheit ist. Mehr kann ich nicht sagen. Es ist eine Konstellation und es ist auch ein Dispositiv. Aber das alles muss in die Luft gejagt werden, es muss gesprengt werden. Dann erst fängt der Film an, nachdem man das alles in die Luft gesprengt hat.

EM: Und wie sprengst du?

JMS: Ich sprenge nicht, ich warte, bis die Wirklichkeit das tut. Oder ich arbeite im Widerspruch zu dem Ganzen. Und die Luft und das Licht und so weiter, und die Tonatmosphäre – in all dem, was  nicht vorgesehen ist, fängt es an zu leben. Aber nur weil der Rahmen da ist, sonst gibt es das Unvorhergesehene nicht. Der Alte sagt in Nicht versöhnt7: „Schwer traf mich das Unvorhergesehene.“ In dem Fall ist es die Frau, die man ihm vorstellt. Man könnte auch sagen, in diesem Sinn ist der Film eine Frau, die plötzlich alles in die Luft sprengt. Das Unvorhergesehene ist Bestandteil der Materie. Wenn der Film existiert, dann ist es gerade nicht außerhalb, sondern innen drin.

EM: Wenn der Film gedreht ist – dann ja. Kann das „Unvorhergesehene“ nach dem Drehen erscheinen? Ist die Montage auch Teil des „Unvorhergesehenen“?

JMS: Nein, das ist immer das Unvorhergesehene. Aber es ist eine rein handwerkliche Arbeit. Die Montage ist weiter nichts als Handwerk, Handwerk, Handwerk. Man muss nur wissen, wenn man zwei Blöcke hat, was dazwischen passiert. Die Kraft der Montage entdeckt man. Und ja, es wird eine Kraft, wenn der Schnitt funktioniert und wenn der Schnitt richtig ist im Verhältnis zum Ganzen und zu der Erzählung, zu den Beziehungen, den Figuren und dem Rest – dann ist es eben eine Kraft, sonst ist nix da.

EM: In der Mitte der zweiten Hälfte von Trop tôt, trop tard verstummt die Voice-over-Stimme, aber es gibt noch weitere Landschaften.

JMS: Das nennt man ein ‘développement’. Film arbeitet mit Raum und existiert nur, wenn man so weit gearbeitet hat, bis dieser Zeit wird, bis sich da plötzlich etwas befreit. Wir haben einen Film gemacht, der heißt Fortini/Cani8, habt ihr den gesehen? Es ist die Geschichte eines Juden aus Florenz, der erzählt, was ihm dort während des Krieges passiert ist. Und plötzlich sagt er: „Die Gemeinderäte der apuanischen Alpen prononcieren sich nach der Gemeinde von Marzabotto.“9 Und dann sieht man Marzabotto. Das ist zehnmal Oradour10, innerhalb Norditaliens. Das war die sogenannte „Gotenstellung“, von einer Küste zur anderen. Dann ist der Widerstand aufgeflammt, und die Wehrmacht hat versucht, die Dörfer zu zerstören und die Frauen zu erschießen, weil sie die Männer versorgt haben.

Was ich nur sagen wollte, ist, dass das eine viel drastischere Entwicklung ist und viel weiter geht als das, was am Ende von Trop tôt, trop tard passiert. Da kommt so eine feierliche, historische Erklärung in drei Sätzen, und dann entwickelt sich eine Sequenz von Schwenks in, ich glaube, zehn verschiedenen Dörfern um die „Gotenstellung“ herum. Man sieht fast zwanzig Minuten nur
Landschaft, stumm, ohne Text. Das ist eine Entwicklung im Film. Das nennt man eine Entwicklung. Eine Art von geophysikalischer, geografischer, geologischer Sequenz, die auch ein Spektakel ist, ein Ort des Widerstands.

EM: Du hast gesagt, dass im zweiten Teil von Trop tôt, trop tard, nach den historischen Materialien, sich etwas befreit hat, und ich finde, man sieht das. Ich habe den Eindruck, es hat mit der Situation vor Ort zu tun, mit Ägypten, dass plötzlich wieder Menschen in der Landschaft existieren im Gegensatz zu Frankreich. Da zerfällt dann plötzlich auch die Konstruktion. Das heißt,
gibt es eine Entwicklung nur im Skript oder auch im Moment des Filmens?

JMS: Nein, das ist eben, was ich die Konstruktion nenne. Wir haben diesen Satz gelesen und gedacht: „Donnerwetter, was ist denn das?“ Und wir sind hingefahren, drei Wochen lang im Kreis, und wir haben diese Dörfer gesucht, Dokumente gesucht, die uns dann berichtet haben, wo alle diese Dörfer waren. Und manche wussten gar nichts mehr, und wir mussten mehrmals
hinfahren und entdecken. Es gibt da ein Dorf am Schluss, wo die SS die ganze Bevölkerung, die noch da war, eingesperrt hat in einer Schule auf einem Hügel, die Frauen und die Kinder. Dann haben sie die Schule in Brand gesteckt und da reingeschossen. Der Schwenk endet mit dieser Schule, einer Dorfschule, ziemlich klein, aber mit vielen Fenstern, und das haben wir entdeckt an Ort und Stelle. Dafür muss man sich vielmals erkundigen und vielmals herumfahren.

Nach Ägypten sind wir zweimal gefahren, und einmal mit Karten von den Leuten, die mit Napoleon nach Ägypten kamen. Das sind die einzigen Landschaftskarten der Dörfer und der Felder, die
existieren. Es gab keine moderne Kartografie von Ägypten. Dann mussten wir jeden Lastwagenfahrer fragen: Wo ist denn das Dorf Soundso? Und manchmal waren wir mittendrin und niemand wusste es, auch der Lastwagenfahrer nicht. Sollen wir Fortini/Cani anschauen?

EM: Ja, sehr gern.         

[—]


Fortini/Cani (1976), © BELVA Film
JMS: Es gibt ein französisches Wort: ‘dilatation’, Ausdehnung. Das gilt auch für die Musik, plötzlich dehnt sich etwas aus und plötzlich wird etwas zusammengerafft. Das ist die Arbeit! Weiter nichts. Und das hängt zusammen mit dem, dem man begegnet, bevor man filmt, und nicht während man filmt. Aber es gibt auch Überraschungen. In Fortini/Cani war die Synagoge in Florenz eine Überraschung. Wir sind eines Samstags da reingegangen und haben einen ganzen Gottesdienst erlebt. Das haben wir dann auch gefilmt. Und das ist im Film drin, war aber nicht vorgesehen. Man kann nur etwas filmen, was man gesehen hat, und man kann nur etwas gesehen haben, wenn man vorher lange genug geschaut hat. Cézanne sagte: „Schauen Sie sich diesen Berg an, einstmals war er Feuer!“ Das ist der Berg, den er fünfzig Mal gemalt oder gezeichnet hat – der Mont Sainte-Victoire, aber das müsste für jeden Augenblick in jedem Film gelten.

EM: Ich glaube auch an die Kraft der Situation, an den Moment, in dem etwas passiert. Nicht nur in einer langen Vorbereitungsarbeit, sondern auch in der aktuellen Situation, wenn man einen Ort neu oder zum ersten Mal sieht. Wenn man diesen Moment filmen kann, dann übermittelt sich etwas.

JMS: Damit muss man aber sehr vorsichtig sein. Ich glaube nicht an ‘spontaneity’. Das kann manchmal passieren, in einem Rahmen, der vorher sehr bearbeitet wurde. Im Gegenteil, man muss manchmal den Mut haben, zu verzichten und auf den Knopf zu drücken, damit es nicht weiter läuft, das Filmmaterial. Zum Beispiel gibt es einen Film von Jean Rouch, der heißt La chasse au lion à l’arc. Rouch hat gefilmt, gefilmt und im Augenblick, als sie auf den Löwen mit Pfeilen geschossen haben, hat er aufgehört zu filmen. Er hat gesagt: „Das darf man nicht zeigen.“ Das ist eine moralische Frage. Ästhetik hat mit Moral zu tun.

EM: Die Jagd war Teil eines Rituals, das heilig ist in einer bestimmten Form.

JMS: Das kommt noch dazu, aber es war nicht nur das. Es gibt Augenblicke, wo man intervenieren muss und nicht mit den Händen in der Tasche dabeistehen kann und filmen.

ML: Operai, contadini zeigt Texte aus Elio Vittorinis Die Frauen von Messina. In der Erzählung schaffen die Leute eine Gemeinschaft, die versucht, mit dem Nachkriegs-Italien, mit der Härte des Lebens zurechtzukommen, den Hunger zu überwinden und den langen Winter zu überleben. Die Geschichte konzentriert sich auf die alltäglichen Lebensaktivitäten und die Verhältnisse, die daraus entstehen. Die alltägliche Lebensaktivität ist das materielle Leben der Kommune, ihre Arbeit. Der Film Operai, contadini wird im Wald inszeniert. Die Leute sind von nicht-kultivierter Natur umgeben. Es gibt also eine Asymmetrie zwischen dem Leben der Kommune in der Erzählung und dem Leben der Kommune im Film. Ist diese Asymmetrie notwendig?

JMS: Es ist natürlich besser, als wenn wir mitten auf Feldern gedreht hätten. Das ist da, wo sie wohnen, das ist nicht irgendwo. Außerdem, wenn wir sie auf angebauten Feldern gezeigt hätten, dann wäre das platt gewesen und illustrativ. Hier sind sie in einem Raum, an einem Ort, wo sie irgendwie einen Prozess erleben, einen Prozess im Sinne eines Gerichts. Sie stehen vor einem Gericht und sollen erzählen, wie das alles gewesen ist und wie das alles passiert ist. Deswegen lesen sie auch zum Teil, wie wenn einer vor Gericht etwas verliest.


Il ritorno del figlio prodigo / Umiliati (2001-03), © BELVA Film
ML: Aber die Leute im Film stellen auch eine Gemeinschaft dar.

JMS: Aber die Gemeinschaft sieht man nicht als solche, während sie existierte. Man sieht alles, was erzählt wird. Es sind Erzählungen, eine ganze Menge kleine, winzige Erzählungen. Wie man vor einem Gericht eine winzige Sache erzählt, etwas Präzises, Beschränktes.

ML: Wenn man einmal annimmt, dass jeder Film in gewisser Weise eine Dokumentation seiner selbst ist, dann gibt es einen Unterschied zwischen Vittorinis Roman, also einem Buch, das direkt beschreibt, wovon es handelt, und eurem Film Operai, contadini. Es geht mir um die unterschiedliche Repräsentationspolitik, die hier jeweils am Werk ist. Im Film sind Menschen
versammelt und sie sprechen über die Kommune, aber wird in dem Film eine Kommune hergestellt? Worin besteht die Beziehung zwischen der Kommune, von der sie sprechen, und ihnen selbst?

JMS: Da ist einer im Film, der zurückkommt. Das war der Schreiner und er sagt zu dem anderen: „Was bist du denn? Kommunist?“ Und dann sagt der Kommunist: „Italienisch.“ Das sind alles konkrete, moralische Präzisionen, da geht es nicht um den Kommunismus in der Luft. Er sagt: „Wir sind zu ignorant in diesem Lande. Kommunist ist nicht derjenige, der es will. Man bräuchte die, die nicht ignorant sind, die den Namen nicht verderben.“ Das ist alles. Es wird geredet von etwas, das eben nicht existiert. Ich mache darauf aufmerksam, dass in dem Film das Wort „Kommune“ nie, von keiner der Personen gebraucht wird. Am Schluss sagt Ventura einmal ein Wort: „diese riunione von Menschen.“ Das heißt: „dieses Zusammensein von Menschen, Zusammentreffen von Menschen“. Er sagt nie ‘Kommune’.

ML: In der ersten Szene in Trop tôt, trop tard folgt die Kamera, gemeinsam mit dem Auto, einem Kreisverkehr.

JMS: Sieben Mal.

ML: Die Bewegungen der Kamera verwischen die Koordinaten des Raums. Der Raum wird durch diese Bewegung kontinuierlich transformiert. Räumliche Hierarchien werden ausgelöscht. Links–Rechts, Nord–Süd, die den Betrachter orientieren, existieren nicht. Obwohl diese Szene einen Anfang und ein Ende hat, hat die Kamerabewegung keine Richtung. Warum habt ihr
diesen dis-figurativen Raum erzeugt? Ist es ein nicht-menschlicher oder ein anti-menschlicher Raum?

JMS: Er ist nicht mehr menschlich, er ist nur gefüllt vom Verkehr oder vom Verkehr aufgesogen, also ist er nicht mehr menschlich. Aber er war einmal menschlich, denn das war ein Platz, und da oben ist die Statue de la Liberté, die man nicht sieht, weil man darum herumkreist und davon erzählt, dass die Bourgeoisie immer verraten hat. Die Figuren sind eingesperrt in den Autos, wie im Gefängnis. Man sagt auch: sich im Kreis bewegen. Das ist ganz konkret. Und in dieser Einstellung am Anfang, die sehr bösartig ist und wo alles darin steckt, was ihr gesagt habt, ist es trotzdem für uns ein Spiel gewesen, so etwas gespenstisch zu zeigen. Man darf sich doch nicht schämen zu spielen!


Jean-Marie Straub, Dreharbeiten für Zu früh, zu spät (1980/81) in Ägypten. © Maggie Perlado

Dritter Tag

EM: Wir würden gerne ein wenig detaillierter über den Film Trop tôt, trop tard sprechen. Im ägyptischen Teil gibt es eine Einstellung von Kairo von der Perspektive einer Festung aus gesehen.

JMS: Das ist die Hauptfestung.

EM: Du hast gesagt, wenn man ein Dorf filmen will, muss man einen Standpunkt suchen, und dass dieser Standpunkt oft dort ist, wo der Wasserbehälter den Ort versorgt. Wenn man von einer Festung aus filmt, oder innerhalb eines Dorfs zum Beispiel vom Bewässerungspunkt aus, sind das zwei unterschiedliche Standpunkte?

JMS: Ideologisch schon. Es gibt auch Dörfer, die keinen Wasserbehälter haben, die hängen von einem anderen Dorf ab, und so weiter. Aber man muss irgendwie so etwas finden. Es kann auch die Kirche sein, wenn sie oben ist. Aber das hat dann als Konsequenz, dass man die Kirche nicht filmen kann, denn man ist drinnen oder drauf.

EM: Aber man muss diesen ideologischen Unterschied auch nicht unbedingt machen, oder?

JMS: Den Wasserbehälter zeigt man sowieso nicht. Aber diese Festung, wenn man davon ausgeht, dann zeigt man sie, denn das war schon ein Ausgangspunkt des Widerstands für die Ägypter.

ML: Die Position der Kamera ist dann eine strategische?

JMS: Ich mag Strategie nicht, weil darin ‘strategos’ steckt, griechisch für „der General“. Das gilt für Eroberer oder für Armeen, aber das gilt doch nicht für den Film. Ein Film hat doch nichts mit Krieg zu tun. Man will nicht die Erde erobern, man will sie streicheln. Das hat mit Erotik zu tun und nicht mit Strategie. Es hat mehr mit Geologie zu tun, mit Geologie und Geografie. Das ist Geo, die Erde auf Griechisch. Geologie ist, was nicht zu sehen ist, oder fast nicht; das, was unten ist. Geografie ist, was an der Oberfläche ist, die Beschreibung der Erde.

EM: Du sagst, du magst Strategie nicht, weil es etwas mit General zu tun hat. Aber man könnte ja auch sagen, dass Konstruktion und Montage Teile einer Strategie sind.

JMS: Ja, die Vorbereitung. Aber was nachher kommt, ist das Gegenteil von Strategie.

EM: Und was wäre das?

JMS: Erotik, oder Betrachtung, oder … es hat auch mit Mystik zu tun. Auf keinen Fall mit Mystizismus, aber mit Mystik. Wie heißt das in der Bibel, das Hohelied? Das ist ein Dialog, beim Bach auch: „Wann kommst du, mein Heil? Ich warte mit brennendem Öle.“ Einmal haben wir uns erlaubt, sozusagen einen Musikfilm zu machen, und das ist der Schlusschoral des Himmelfahrtsoratoriums, und da sind die Wörter drin, die Ungeduld. Bei diesem Schlusschoral in Der Bräutigam, die Komödiantin und der Zuhälter11 sieht man die Leute, die da sind, die Frauen auf dem Gehsteig. Dann hört man die Wörter „dass wir den Heiland grüßen, dass wir den Heiland küssen“. Donnerwetter, das hat auch mit Erotik zu tun.

EM: Ich finde, dass eure Filme auch sehr archäologisch operieren. Sie folgen Ruinen, Orten, Städten und Straßen, dem, was an Resten, an räumlichen und historischen Überresten vorhanden ist. Gleichzeitig sind sie aber auch anthropologisch, weil sie sich hauptsächlich auf den Menschen beziehen. Aber die Körper werden nicht wie im ethnologischen Film, wie zum Beispiel bei Rouch, gefilmt. Wenn ihr eine Landschaft filmt, dann folgt ihr eher den Linien, die die Landschaft erzeugt, zum Beispiel der Kontur des Berges oder der Linie einer Straße, aber nicht den Leuten, die sich darin bewegen.

JMS: Das wäre ein anderer Film. Man kann nicht zwei Sachen gleichzeitig betreiben. Bei dieser Entfernung sind die Leute in der Ferne, oder sie sind nicht da. Die Absicht und der Zweck ist nicht, die Leute zu zeigen.

ML: Die Frage nach der Strategie beziehungsweise der Taktik kam auf, um zu verstehen, in welcher Beziehung die Teile eines Films zu seinem Ganzen stehen.

JMS: Warum sollte das so sein? Das muss es gar nicht. Man kann Blöcke zeigen, die als Blöcke wie in der Geologie miteinander reagieren. Aber das ist eine Frage der Jahrtausende. Jahrtausende! In Der Bräutigam, die Komödiantin und der Zuhälter heißt es: „Oh Tag, du Tag, wann wirst du sein?“ Das ist die Ungeduld. „Dass wir den Heiland grüßen, dass wir den Heiland küssen? Komm, stelle dich doch ein! Oh Tag, du Tag, wann wirst du sein? Komm, stelle dich doch ein.“ Das ist ein Block für sich mit der Musik.

EM: Einzelne Blöcke eines Films können miteinander korrespondieren ähnlich wie tektonische Blöcke in der Geologie. Sie müssen nicht strategisch verknüpft werden, sie beziehen sich aufeinander – ist es das?

JMS: Manchmal ja, dann ist es das, was man eine Sequenz nennt. Aber bei Landschaften muss das nicht der Fall sein, dass eine Sache verknüpft ist mit der anderen, das kann auch getrennt sein. Blöcke wie Granitblöcke, die aneinander prallen.


Chronik der Anna Magdalena Bach (1967), © BELVA Film
ML: Ein Geologe oder Archäologe kann lediglich wissen, wie sich die Granitblöcke, die Geologie zusammensetzen. Das ist der Punkt: Wenn wir Geologie oder Archäologie betreiben, untersuchen wir lediglich, wie es gemacht ist. Wir können die Geologie nicht konstruieren. Und dann der Prozess der Entstehung eines Films, wo Blöcke verbunden sind …

JMS: Es ist keine Absicht, es ist eine Methode. Wir sind nicht da und stellen uns davor und sagen: „Jetzt werden wir Geologen.“ Nein, so ist es nicht, es ist eine Methode. Es hat mit Geologie zu tun, aber es ist Filmerei. Es zeigt Geologie als solches nicht, sondern es arbeitet zum Teil wie Geologie.

ML: Basiert diese Methode auf Mimese?

JMS: Nein. Das Gegenteil von Mimese: Zufall. Das hat mehr mit Zufall zu tun als mit Mimese. Alles, was Mimese ist bei der Filmerei, ist tödlich, genau wie die Metaphern. Kafka schreibt in seinem  Tagebuch: „Die Metaphern sind eines in dem vielen, was mich am Schreiben verzweifeln lässt.“ Film muss Metaphern vermeiden, wie er als Film die Malerei vermeiden sollte. Wenn einer anfängt und sagt: „Wir werden das jetzt mit einem Licht zeigen, das mit Rubens oder mit Goya zu tun hat“, dann ist der Film schon kaputt, bevor er geboren wird. Die Kamera ist kein Pinsel, es ist eine Kamera. Genau wie die Kamera nie eine Waffe gewesen ist, wie viele behauptet haben im Mai 68. Es ist keine Waffe, es ist eine Kamera. Brecht sagte schon: „Es ist kein Auge, es ist kein Auge!“

EM: Sondern? Was ist es denn für dich?

JMS: Es ist eine Betrachtung. Und dann ist man wieder bei Meister Eckhart, oder was?

EM: Ist die Kamera für euch ein Werkzeug?

JMS: Ja.

ML: Eure Filme mit Strategie in Verbindung zu bringen, war kein Statement, sondern ein Versuch zu verstehen. Indem man einen Faden aufgreift und schaut, wo er hinführt. Eine Festung ist kein beliebiger Ort, der plötzlich da ist. Eine Festung ist immer verbunden mit der Landschaft, der Geologie.

JMS: Du sprichst von Trop tôt, trop tard?

ML: Zum Beispiel. Und dann sind wir diesem Faden gefolgt, indem wir uns die Kamera als eine Erweiterung der Geologie gedacht haben, als eine Festung: Sie verwendet Granit, um ihren Standpunkt zu markieren, oder sie verwendet den Wasserspeicher, worüber wir gestern gesprochen haben.

JMS: Nicht schlecht. Das stimmt. Warum sitzt du hier? Es wäre besser, du würdest darüber schreiben.

EM: Es ist wichtig, manches von dir zu hören.

JMS: Nein, es ist schade. Denn mit solchen Schwätzereien macht man zum Teil kaputt, was die Filme sind. Die Filme sind, wie sie sind, dank der Arbeit, die drinsteckt. Was ich da schwatze, ist an sich uninteressant. Denn das steckt in der Materie drin, und was da drinsteckt, könnt ihr besser beschreiben als ich. Denn das ist dann konkret, eine Erfahrung, etwas, was ihr erlebt habt. Und was ich da schwatze, ist das Gegenteil, das ist Theorie, schlechte Theorie oder oberflächliche Theorie, also kurz und gut: Klischees. Und ein großer Teil der Arbeit, bevor und während man filmt, besteht darin, die Klischees zu vermeiden und in die Luft zu sprengen, zu ‚dynamitieren‘. Es gibt ein Wort, das vergriffen ist, das zum Klischee geworden ist: Es hat mit Dialektik zu tun. Donnerwetter! Man darf nie etwas sagen oder zeigen, wo nicht die Möglichkeit des Gegenteils als Widerstand darin zu spüren ist.

EM: (lacht) Ich bin natürlich voll von solchen „oberflächlichen Theorien“. Als wir uns überlegten, was wir gerne mit dir besprechen möchten, haben wir auch schon daran gedacht, dass wir hier nur „oberflächliche Konstruktionen“ streifen können.

JMS: Trotz allem ist das alles nachträglicher Mist. Das steckt schon drin in den Filmen, aber wenn man es formuliert, dann wird es verwässert. Was man erzählt, auch wenn es zum Teil ja stimmt, wird zur Karikatur oder zur generellen Idee. Brecht sagte: „Die Wahrheit auszugraben unter dem Schutt des Selbstverständlichen, im großen Prozess das Einzelne mit dem Allgemeinen zu verknüpfen“. Die Filmerei hat mit dem Einzelnen zu tun und nicht mit dem Generellen. Und das Ganze muss ein Geheimnis bleiben. Das ist Filmmaterie, das ist keine Predigt.

ML: Und Film ist nicht die dialektische Versöhnung?

JMS: Nein, niemals.

ML: Wenn ich einen Film schaue: Wie wirkt sich da die Dialektik auf mich aus? Was sollte der dialektische Effekt sein? Für Brecht scheint es um eine kalkulierte Provokation zu gehen, die zu einem manipulierten Ergebnis führt. Der „Brechtsche Effekt“ ist die Herstellung eines unversöhnten Subjekts. Das ist die Kraft der Dialektik, man wird Teil dieser unversöhnlichen Logik, in der es keine Lösung gibt. Das ist also eine Form, wie sich die Dialektik auf einen auswirkt. Kommt das dem nahe, was ihr gemacht habt?

JMS: Unser erster Langfilm hieß Nicht versöhnt. Wie könnte man mit einer solchen Welt versöhnt sein? Das habe ich ja vorher versucht zu sagen, als ich meinte: Man muss all das sein, was man zeigt. Wir haben etwas Konkretes, die Erde, und wir müssen die Fähigkeit haben, diese Erde zu genießen, um sie verteidigen zu können. Wir haben nur das.

EM: Würdest du deine Filme als „in Verteidigung der Erde“ beschreiben?

JMS: Ja, selbstverständlich. In einem Film von Dowschenko gibt es eine Szene, wo ein Bauer  plötzlich aus Ungeduld anfängt, sein Pferd sehr hart am Maul zu reißen. Er wurde ungeduldig wegen dem, was ihm vorher passiert ist, und plötzlich hatte er es mit dem Pferd zu tun, und dann hört man ganz vorsichtig einen Kommentar: „Iwan, Iwan, du verwechselst den Feind.“ Der Zynismus ist nie so groß gewesen wie jetzt. Wir haben einen Punkt an Zynismus erreicht, der alles, was vorher gewesen ist … und woher kommt das? Vom Geld, vom Kapitalismus, man muss es so kindisch sagen.

EM: Deshalb habe ich mich am ersten Tag etwas gewundert, als du Buñuel zitiert hast: „Man könnte zynisch sagen, ich habe sie wie Insekten gefilmt.“

JMS: Er hat das aber präzise gesagt über …

EM: … die Bourgeoisie.

JMS: Ja. Da war die Idee drin: „Wie seltsam, dass es solche Kreaturen gibt.“ Man tut das nicht, weil man das gut und schön findet, sondern man tut es, damit die Leute sagen: „Aber das ist doch nicht möglich! So was dürfte nicht sein, auf keinen Fall, so was müsste nicht sein und so was muss nicht sein und so was darf nicht sein.“ Dieses Gefühl steckt in unseren Filmen, und wenn man prätentiös sein möchte, steckt es in jeder Einstellung drin. Wenn wir nicht für die Katz gearbeitet haben mit der Danièle. Aber durch diese ganze Sache bin ich jetzt wie ein Wahnsinniger da. Und die Filme, trotz allem, was ich gesagt habe, sind alles andere als Wahnsinnigkeit. Es ist wiederum eine Forcierung, eine Karikatur, die man dann betreibt … während man immer mit Vorsicht und großer Geduld, Geduld, Geduld … trotz allem versucht hat bei der Arbeit … Das ist, warum ich … ihr seid mir lieb, aber ich hätte von vornherein sagen müssen: Nein, das will ich nicht! Ich habe schon zu viel Blödsinn und zu viel geschwatzt, ich will nicht noch einmal, weil ihr beide mir lieb seid. Ja. Das war wiederum eine Falle! (Lachen.)

EM: Misha, er glaubt, wir haben ihm eine Falle gestellt.

JMS: Eine Falle, genau, eine Falle.

 

Anmerkungen

1Die Frage bezieht sich auf einen Gedankengang, den Jacques Rancière in einem öffentlichen Interview mit Philippe Lafosse nach einer Vorführung von Dalla nube alla resistenza und Operai,  contadini im Cinéma Jean Vigo in Nizza entwickelt hat. Das transkribierte Gespräch wurde in englischer Übersetzung von Ted Fendt im Internet veröffentlicht.

2 Drei Filme von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet: Trop tôt, trop tard (Zu früh, zu spät, 1980/81), Dalla nube alla resistenza (Von der Wolke zum Widerstand, 1978) und Operai, contadini (Arbeiter, Bauern, 2000).

3 Joseph McCarthy (1908–1957), US-amerikanischer Politiker, nach dem die „McCarthyÄra“ benannt ist: eine anti-kommunistische Kampagne in den USA in den frühen 1950er Jahren, die sich zu einer mehrjährigen Phase landesweiter Repressionen, Berufsverbote und Rufmorde ausweitete.

4 Die „Cahiers de Doléances” (etwa: Beschwerdehefte), eine Einrichtung des Ancien Régime in Frankreich, waren schriftlich geführte Register, in welche die Abgeordneten regelmäßig Beschwerden, Proteste und Bitten der Bevölkerung aller Stände aufzunehmen hatten.

5 Mohammed Nagib (1901–1984), zentraler Akteur in der ägyptischen „Revolution des 23. Juli“ (1952) und erster Präsident nach der Ausrufung der Republik am 18. Juni 1953.

6 Moses und Aron (1974) von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet.

7 Nicht versöhnt oder Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht (1964) von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet.

8 Fortini/Cani (1976) von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet.

9 Der vollständige Satz aus Fortini/Cani, bzw. aus Franco Fortinis Essay I cani del Sinai (Die Hunde des Sinai), auf den sich Jean-Marie Straub hier bezieht, lautet: „Die
Gemeinderäte in den apuanischen Alpen, wo 23 Jahre zuvor Reder und die seinigen Hunderte von Menschen abgeschlachtet hatten, erklären sich im Sinne der Gemeinde von Marzabotto und lehnen die Bitte um Verzeihung ab.“

10 Am 10. Juni 1944 verübten Soldaten einer deutschen SS-Division ein Massaker an der Bevölkerung von Oradour-sur-Glane, einem Dorf in der Region Limousin.

11 Der Bräutigam, die Komödiantin und der Zuhälter (1968) von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet.

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